Queer Vienna: Wissen und Gegenwissen in einem Bewegungsarchiv

Der Archivraum von QWIEN. Im Vordergrund Bilder aus dem Nachlass von Wolfgang Reder

Blick in ein Bewegungsarchiv. Im Vordergrund Collagen aus dem Nachlass von Wolfgang Reder (Foto: QWIEN)

Historische Schreibwerkstatt mit Publikation

Eine Kollaboration zwischen QWIEN, der Universität Wien und der ETH Zürich

Publikation erschienen: https://aether.ethz.ch/ausgaben/

English summary below

Die Begriffe Homo- und Transsexualität verweisen auf die reiche und problematische Forschungstradition der Medizin, Psychiatrie und Sozialwissenschaften. Schwul, lesbisch, Transgender und queer waren von Anfang an Gegenbegriffe zu diesen wissenschaftlichen Kategorien, die mit eigenen Inhalten gefüllt werden mussten. Die europäischen und transatlantischen Emanzipierungsbewegungen des 20. Jahrhundert waren deshalb auch Zusammenhänge, in denen Gegenwissen erzeugt und in eigenen Archiven verfügbar gehalten wurde. 

Was für Wissen haben Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und queere Menschen erworben und erzeugt, um Politik zu machen? Mit welchem staatlichen oder wissenschaftlichen Wissen stellte man sich Ihren Forderungen nach einem selbstbestimmten Leben in den Weg (wenn etwa schwule Treffpunkte schließen sollten, um HIV einzudämmen)? Inwieweit spiegelte sich die Kritik an traditionellen Lebensformen auch in einer Ablehnung bestehender Wissensformen? Welche Instrumente, Orte, Kommunikationsformen und Technologien konstituieren die Gegenwissenschaft, die Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und queere Menschen entwickelt haben, um sich selbst zu verstehen und anderen mitzuteilen?

Diesen Fragen gehen wir in dieser mikro- und alltagshistorischen Schreibwerkstatt gemeinsam nach. Studierende des Fachs Geschichte an der Universität Wien werden dazu Archivbestände von QWIEN Zentrum für queere Geschichte Wien auswerten. Fachlich und organisatorisch angeleitet werden sie dabei von Dr. Sebastian Felten (Uni Wien) sowie Mag. Andreas Brunner und Mag. Hannes Sulzenbacher (beide QWIEN). Die Studierenden werden auf Grundlage ihrer Forschungen an konkretem Archivmaterial kürzere Texte schreiben, die methodisch reflektiert, argumentativ komplex und gleichzeitig für eine interessierte Öffentlichkeit verständlich sind. Publiziert werden die Ergebnisse bei Æther, einer Fachzeitschrift, die an der ETH Zürich redaktionell betreut wird. Die Ergebnisse bestehen erstens in der Ausbildung der Studierende als Forschende, Lehrende und public historians, zweitens in einer gedruckten Publikation und drittens in einer aufwendig gestaltete Open-Access Online-Ausgabe. 

Das Projekt wird finanziell gefördert durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich, die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, die Österreichische Hochschüler_innenschaft und den Forschungsschwerpunkt Wissenschaftsgeschichte.

Wieso Queer Vienna? Wichtige Errungenschaften der LGBTQ-Bewegungen im Kampf gegen schlechte oder schlecht angewendete Wissenschaft werden jüngst wieder verstärkt in Frage gestellt. Der sich in autoritären wie demokratischen Gesellschaften formierende Widerstand gegen den sogenannten „Genderwahn“ argumentiert oft biologistisch. Neue Technologien der algorithmischen Erkennung vermeintlich homosexueller Gesichtszüge erinnern an eigentlich überwundene Erklärungsmuster der Phrenologie und Physiognomie. Das Projekt wendet sich gegen solche neuen alten Erklärungsmuster, indem es die Archive der Emanzipationsbewegungen selbst aktiviert und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Gerade für die Lehrer*innenausbildung bietet es damit einen Reflexionsraum über die materielle Verfasstheit von Diskursen, und vermittelt Lehramtsstudierenden Arbeitsweisen und Argumentationsstrategien für die eigene Bildungsarbeit.

Wieso QWIEN? Das Zentrum pflegt eine wachsende Sammlung schriftlicher und materieller Zeugnisse des queeren Lebens in Wien und Österreich. Neben einer Fachbibliothek, einem Pressearchiv mit Ausschnitten seit den 1980er Jahren und einer umfangreicher Zeitschriften-, Magazin- und VHS-Sammlung sind vor allem die folgenden Bestände relevant für dieses Projekt: (1) Das umfangreiche Archiv der Wiener AIDS-Hilfe enthält Protokolle, Diskussionsunterlagen, Tagungsberichte von medizinischen und anderen Kongressen und lässt das Zusammenspiel von medizinischem und epidemiologischem Fachdiskurs sowie “Wissen von unten” durch Betroffene der AIDS-Krise beobachten. (2) Das umfangreiche Archiv der Liga für Menschenrechte enthält Veröffentlichungen und Protokolle, in denen juristisches Wissen über Homosexualität rezipiert und erzeugt wurden, u.a. im Austausch mit (deutschen) Homophilen, also einer Emanzipierungsbewegung der Nachkriegszeit. Dieser Bestand ist insbesondere im Zusammenhang mit einer Sammlung von Strafakten aus dem Nationalsozialismus interessant, die aus dem Bestand des Wiener Stadt- und Landesarchiv digitalisiert wurden. (3) Die umfangreichen Sammlungen zu den Wiener Gruppen und Einrichtungen Coming Out, Homosexuellen-Initiative, und Rosa Lila Villa bieten detaillierte Einblick in die Organisation der Schwulen- und Lesbenbewegung seit den 1970er Jahren. In Gesprächsgruppen, Workshops und Publikationen wurden in diesen Einrichtungen rechtliche, gesundheitliche und soziale Fragen des schwulen, lesbischen und später auch Trans* Alltagsleben verhandelt. (4) Nach- und Vorlässe wiederum verhandeln diese Fragen aus der Perspektive des privaten Lebens, etwa die Tagebücher, in denen Erich Lifka seit den 1930er Jahren seine belletristische Lektüre und ab den 1950er Jahren auch seine erotischen Begegnungen penibel aufzeichnete und mit Sigeln und Querverweisen erschloss. (5) Schließlich wird QWIEN selbst als Artefakt der schwulen Emanzipierung zum Gegenstand der Untersuchung, indem wir die Sammlung im Ganzen als Ergebnis einer internationalen und intersektionalen Verflechtungsgeschichte untersuchen, aber auch Leerstellen und verschüttete Stimmen herausarbeiten. 

Wieso Æther? Die Fachzeitschrift Æther ist unmittelbar an die universitäre Lehre geknüpft und für diese entstanden. Die Studierenden arbeiten anhand eines konkreten Gegenstandes – ein Ort, ein Archiv, ein Themenkomplex – gemeinsam an einer Publikation, die online Open Access sowie als Buch erscheint und andere Lesergruppen als nur die kleine Fachgemeinschaft der Geschichte/Wissenschaftsgeschichte anspricht. Wie die Herausgeber*innen schreiben, Æther ist ein Versuch, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, in enger Kooperation mit den Autor*innen, Gestalter*innen und Entwickler*innen. Anders ist auch die Art von Texten, die hierbei entstehen: Komplexe, dichte, miteinander verwobene Geschichten, die im Kollektiv entstehen.

Laufzeit: 01.09.2021 bis 30.04.2022

Kontakt: Dr. Sebastian Felten, sebastian.felten@univie.ac.at


Queer Vienna: Knowledge and Counter-Knowledge in an Emancipatory Archive

Important achievements of the LGBTQ movements against bad or ill-used science have been rolled back or questioned across Europe. To counter these tendencies, this research and writing workshop will ask: What tools, sites, forms of communication, and technologies constitute the counter-knowledge that lesbian, gay, bisexual, trans, and queer people have developed to understand themselves and communicate to others?

Students and staff at the University of Vienna will conduct archival research at QWIEN Centre for Queer History Vienna and publish their findings in the international open-access journal Æther

The project is supported by the Zukunftsfonds of the Republic of Austria, the Faculty of Historical and Cultural Studies of the University of Vienna, Österreichische Hochschüler_innenschaft and the Forschungsschwerpunkt Wissenschaftsgeschichte.